Die kleinen Häuser der Bushaltestellen
5. Landesweite Tagung der Architektinnen in Baden-Württemberg, 22.Juni 2001, Haus der Architektur, Stuttgart
Vortrag: “Reale und virtuelle Räume – Herausforderungen an unsere Wahrnehmungen“
Podiumsdiskussion: verOrten.de-konstruiert – Was kann das für uns Architektinnen bedeuten?
„…laute Straßengeräusche (über Band)
Sie merken – Ich stelle gerade erhöhte Anforderungen an ihr Wahrnehmungsvermögen.Sind sie irritiert?
Passt das zusammen ? Dieser Raum hier mit den phantastischen Ausblick, der Garten.. . die anregenden Gespräche, die sie beim Mittagessen geführt haben…die konzentrierte und interessierte Atmosphäre, die am heutigen Vormittag zu spüren war…und jetzt das!
Was soll das?
Die B 27, von der die Strassengeräusche am Anfang stammen, ist nur eine Parallelstrasse entfernt und obwohl sie und ich wahrscheinlich heute schon mal auf entlanggegangen oder gefahren sind – kommt diese Erfahrung erst durch die Wahrnehmung wieder ins Gedächtnis.
Letztes Jahr ging es mir ähnlich. Ich war auf dem Weg zu einer Ausstellung im Galerieverein Leonberg, ging zur Siestazeit gegen 14.00 Uhr erst über den Marktplatz und anschließend durch einen der Verbindungsgänge, die in der Altstadt von Leonberg die Gassen, die parallel zum Marktplatz verlaufen, für Fußgänger verbinden. Die Ausstellungsräume des Galerievereins waren abgedunkelt und nahezu leer. Es saß nur eine freundliche Dame an einem Tisch bei der Tür.
Alles war absolut ruhig – nur das Surren eines elektrischen Gerätes war zu hören.
Und dann erlebte ich, wie ein Blick in den Gang, durch den ich fünf Minuten vorher gegangen war, in den Ausstellungsräumen wieder auftauchte und an den Wänden entlangwanderte. In einer Wandecke wurde der Blick irritierend verändert, weil durch das Anbringen eines Spiegelfeldes das Bild ins Unendliche wanderte.
Der Blick, ein Film mit Menschen die den Gang durchliefen, wiederholte sich ständig und ich entdeckte ständig neue Wandteile, die sich veränderten, wenn der Film über sie hinwegglitt. Nach und nach nahm ich auch weitere Veränderungen wahr, die im Raum vorgenommen worden waren.
Das war meine erste Begegnung mit einem Werk der Künstlerin Anna Tretter.
Und ich freue mich, dass sie heute an unserer Veranstaltung sowohl mit einer Ausstellung, als auch mit einem Vortrag beteiligt ist.
Anna Tretters Lebenslauf und ihrem Werkverzeichnis kann man die konsequente Auseinandersetzung mit den Dreidimensionalen bis hin zur Raumgestaltung und -verfremdung entnehmen. Geboren im Odenwald, hat sie nach der Holzbildhauerschule in der Rhön an der Kunstakademien in Stuttgart und München studiert. Sie hat zahlreiche Förderstipendien in Bayern und Baden-Württemberg, aber auch in Frankreich erhalten.
Im Vorfeld zu unserer Veranstaltung hatten wir eine Reihe gemeinsame Termine, an denen Anna Tretter viele Ideen zum Umgang mit den Räumen des Hauses der Architektur hatte. Äußere Umstände wie Zeitaufwand (1 Tag! für die Ausstellung mit Auf- uns Abbau) und uns zur Verfügung stehende Mittel führten zur Auswahl der Ausstellung „Die kleinen Häuser der Bushaltestellen – Eine Reise“, die letztes Jahr in der Galeria Awangarda in Breslau zu sehen war.
… Auch wenn die Auswahl der Ausstellung eher den Umständen entsprechend erfolgte, so hat sie doch viel mit unserer Fragestellung des Verortens zu tun. Die Bushaltestellen, Orte des Wartens, aber auch des Schutzes und vielleicht auch Orte der Verlassenheit gehören im Alltag von vielen Frauen zu besonders mit Gefühlen besetzten Räumen. Vielleicht hatten sie heute morgen, als sie durch die Ausstellung diesen Raum betreten haben, schon die eine oder andere besondere Wahrnehmung dabei.
In Ihrer Auseinandersetzung mit dem Raum und der Bewegung im Raum ergeben sich bei Anna Tretter natürlich immer wieder Ansatzpunkte zu unserer Arbeit als Architektinnen.
In ihrem Umgang mit Licht, Schatten, Bewegung und Spiegelung schafft sie mit Reduzierung und Minimalisierung erstaunliche Veränderungen der Wahrnehmung. In ihrem Vortrag ‚reale und virtuelle Räume – Anforderungen an unsere Wahrnehmungen‘ wird sie uns davon jetzt einen Eindruck geben.
Am Ende des Vortrags nach Dank und Aufforderung nochmals die Ausstellung zu durchwandern:
Bevor sie jetzt sich die Ausstellung von Anna Tretter anschauen, möchten wir sie noch zum verOrten ihrer mitgebrachten Orte veranlassen. Die Initiatorinnen dieser Aktion Angelika Asseburg und Vera Baumbusch werden ihnen dazu noch einiges erläutern.“
Odile Laufner
DAB 9/2001 Baden-Württemberg, Hubert Schmittler:
…Der Umgang mit Orten wird von der Künstlerin Anna Tretter ins Bild gesetzt. Transportierte und transportable Orte, im Zusammenhang und losgelöst von Ort und Zeit bilden die Kernsätze ihrer sehr inspieriert vorgestellten Projekte zum Thema. Die Ausstellung vor Ort wurde von den TagungsteilnehmerInnen mit geschärfter Wahrnehmung betrachtet.
VerOrten mitgebrachter Orte vor Ort, zu diesem Thema hatten die TeilnehmerInnen Wunsch-, Lieblings- und Traumorte – real oder virtuell – mitgebracht. Spielerisch wurde hier de-konstruiert, persönliche Wahrnehmung, Sehgewohnheiten und Wertesysteme veranschaulicht.
In einer Podiumsdiskussion wurden die Gedankengänge des Tages zum Thema verOrten.de-konstruiert und die verschiedenen Anregungen zusammengeführt. Zentraler Kern bildete der Gegensatz zwischen der persönlichen Wahrnehmung der eigenen Orte und dem Wiederfinden im gesellschaftlichen Raum.