Reuße, Felix: Move, Arbeiten auf Papier

Besucher-Information zur Ausstellung Anna Tretter – Videoinstallation „Move“ / Arbeiten auf Papier, Galerieverein Leonberg 25. 6. – 13. 8. 2000

Wie Sie schon festgestellt haben, sind die Räume des Galerievereins verändert, fast nicht wiederzuerkennen: Die Fenster wurden zugehängt und gestrichen, Plakate abgehängt und jede überflüssige Möblierung entfernt. Anders als bei den bisherigen Ausstellungen, in denen sich der Blick auf Gemälde oder Skulpturen konzentrierte, ist es hier der Raum als solcher, der von Anna Tretter künstlerisch bearbeitet wurde. Nicht länger nur Hängefläche für Bilder und Wandobjekte oder Umraum für Skulpturen tritt er nun erstmals in seiner Struktur zu Tage, die durch präzise künstlerische Eingriffe offengelegt wird.

Dreh- und Angelpunkt im wahrsten Sinne des Wortes ist die Videoprojektion, für die der Raum verdunkelt wurde. Im Gegensatz zum statischen Leinwandbild, auf dem die einmal gefundene Komposition dauerhaft fixiert werden soll, ist das Videobild bewegt. Anna Tretter interessiert gerade diese Spannung zwischen Bild und Bewegung. Der Videofilm zeigt aus einer festen Einstellung den Blick in eine Gasse, die hin und wieder von Passanten durchquert wird. Ohne Ton, schwarz/weiß und in Zeitlupe geht der Film mit den Mitteln der Verfremdung bewußt auf Distanz zur Realität. Die Vielfalt der Bewegungsabläufe, die vor gleichbleibendem Hintergrund und in ihrer zeitlupenhaften Verfremdung besonders hervortreten, ist gegeben: Einkäufer hasten vorbei oder schlendern geruhsam durchs Bild, zwei Frauen bleiben zum Gespräch stehen, ein Junge posiert spielerisch vor der Kamera. Bisweilen verdeckt ein vorbeifahrender Bus oder ein naher Fußgänger die Szene. Die Ortskundigen werden bald den genauen Platz ausgemacht haben, der in unmittelbarer Nähe der Galerie liegt.
Dieser Film ist gleich zweimal zu sehen: Zum einen auf dem Monitor, der zum Eingang gerichtet ist, zum anderen an den Wänden der Galerie entlangwandernd. Das Charakteristische dieser Projektion ist, dass sie die Bewegung der Passanten aufnimmt und die innerbildliche Bewegung in eine tatsächliche Bewegung des Projektionsbildes umsetzt.
Technisch geschieht das dadurch, dass der Film auf einen sich drehenden Spiegel projoziert wird, der von der Decke des Raumes hängt. Genaugenommen sind zwei Bewegungen zu unterscheiden: Das Bild dreht sich nicht nur im Rund, sondern rotiert zudem um den eigenen Mittelpunkt, so dass die Personen nur einen Augenblick lang festen Boden unter den Füßen haben, bevor sie sich zur Seite neigen oder auf dem Kopf stehen. Damit nicht genug verändert sich das Bild selbst in seinen Ausmaßen, seiner Schärfe und Helligkeit.
Die besondere Qualität der Videoarbeit liegt darin, dass die Bewegung des Bildes in seinen Verzerrungen sehr genau auf den Raum hin abgestimmt ist, was übrigens einige Tüftelei erforderte. Wenn Sie das Bild verfolgen, werden Sie feststellen, dass seine Grenzen an markanten Stellen mit denen des Raumes zusammenfallen, und zwar ist das Bild in seiner normalen Position genau an einer Vertikalleiste der Streifenwand neben der Eingangstür ausgerichtet, erscheint dann auf der nächsten Hauptwand in der Horizontale, um beim Verlassen der eingestellten Wand genau deren äußere Kante zu treffen und an der Wand hinter dem Podest wieder horizontal durchzulaufen. Zwischen diesen solchermaßen optisch angehaltenen, herausgehobenen Positionen, die dem Kompositionsgerüst eines Bildes vergleichbar sind, gibt es natürlich einiges an Licht- und Formenreichtum zu entdecken: Verdopplungen und Gegenbewegung im Eckspiegel, das Umbrechen vom konzentrierten zum exzentrisch gelängten Bild an der Wandecke dort drüben, die Vermischung von Tageslicht und Kunstlicht an den Fenstern und nicht zuletzt das Umspringen des Bildes in den so einbezogenen, höhergelegenen, hinteren Raum, wo seine Dimensionen fast ins Monumentale wachsen. Der Raum wird somit von der ungefähren Mitte her erkundet und in seiner disparaten Heterogenität zugleich analysiert und zusammengeschlossen.

Neben die Videoprojektion tritt mit den Spiegeln eine weitere Ebene der Rauminstallation hinzu: In den hoch aufragenden Gläsern spiegeln sich für den im Eingang Stehenden Säulen wider, die neben dem Wandverlauf den Raumeindruck nachhaltig bestimmen. Wie schon das Videobild nicht nur Abbild der Realität, sondern in eigenen Prinzipien folgendes
Architekturelemente werden hier virtuell spiegelverkehrt verdoppelt, wobei der Betrachter aufgefordert ist, unter den zahlreichen Säulen die reale gespiegelte zu erschließen und die Spiegelachsen nachzuvollziehen. Doch auch von anderen Standpunkten aus ergeben sich immer wieder unerwartete Ein- und Ausblicke.
Eine weitere Überraschung erleben Sie im oberen Raum: Dort bilden Spiegelstreifen ein zusammenhängendes, schmales Band, das an Rückwand und rechter Wand entlangläuft. Blickt man vom tiefergelegenen Raum aus hinein, so wird nur der glänzende Steinboden gespiegelt und die tatsächliche Raumausdehnung verunklärt, ein Effekt, der gerade in den Ecken zur Geltung kommt, wo sich das schwarze Einlegemuster zu Quadraten zusammenschließt.
Unser Blick wird so insgesamt weniger auf die Wand, als auf den Boden als spiegelnde Fläche gerichtet, wodurch letztlich der Niveausprung thematisiert wird. Solchermaßen sensibilisiert, wird klar, dass auch die großen, hochformatigen Spiegel mit ihrer Unterkante dieses Maß aufnehmen.
Eine weitere Eigenschaft der Spiegel ist zentral für den Ansatz Anna Tretters: Als Sie die Räume betraten, wurden Sie schon mit Ihrem eigenen Spiegelbild empfangen, das der auf dem Podest installierte Spiegel reflektierte. Es geht letztlich um den belebten, humanen Raum, der sich mit dem Betrachter und aus dessen Sichtweise ständig verändert. Insofern er sich quasi im Kunstwerk selbst bewegt bzw. aufhält, kommt ihm eine neue Rolle zu. Läßt er sich auf das Wahrnehmungsangebot ein, so erlebt er den Raum und sich selbst in seiner Rolle des Betrachters neu: Es geht der Künstlerin darum, unsere orientierungs- und  funktionsbestimmten Sehgewohnheiten aufzubrechen, damit wir mit sensibilisiertem, geschärftem Blick das Gewohnte neu wahrnehmen. Entdecken Sie mit Anna Tretter den Raum neu und lassen Sie Ihre Augen wandern, ganz im Sinne des Titels der Videoarbeit „Move“.

Eine ganz eigene Ebene neben der Installation bilden die Arbeiten auf Papier, denen unser Ausstellungskatalog gewidmet ist. Sie füllen nicht wie gewohnt gleichmäßig die Wände, sondern setzen als Gruppen und Blöcke bewußt objekthafte Akzente. Im Bereich der Erker, die malerisch verdunkelt wurden, finden Sie sensibel hingehauchte Aschemalereien und Silberlackarbeiten der letzten 2 Jahre, im oberen Raum dann eine eindrucksvolle Folge großer Formate gleicher Technik, die erst für diese Ausstellung entstanden. Eine große Auswahl auch früherer Arbeiten seit 1980 findet sich rechts vom Eingang, unter anderem eine herrliche Folge von Sepien. Hier können Sie gerne stöbern und auch Blätter zur besseren Ansicht ins Licht holen. Auch der Garderobenraum ist diesmal als Ausstellungsfläche genutzt, in dem zarte bis kräftige Schellackmalereien und kontrastreiche Architekturzeichnungen zu sehen sind.
In den Zeichnungen zeigt sich im Laufe der Zeit eine immer bewusstere Nutzung des Papier- bzw. Kartongrundes sowie der graphischen Techniken in ihrer Eigenart, und zwar in Hinblick auf eine räumliche Wirkung jenseits des perspektivischen Illusionismus. Die graphische Struktur selbst erlebt man in den jüngsten Arbeiten als Eigenwert. In ihrem Hell-Dunkel scheint sich hier unmittelbar Raum „abzuzeichnen“, die Struktur selbst – und nur sie- bringt ihn hervor. Es ist diese besondere räumliche und graphische Sensibilität, welche alle Zeichnungen Anna Tretters prägt und ihnen bei aller Vielfalt in Bezug auf Technik und Material ihre Unverwechselbarkeit sichert.

Text: Dr. Felix Reuße
Besucher-Information zur Ausstellung Anna Tretter – Videoinstallation „Move“ / Arbeiten auf Papier, Galerieverein Leonberg 25. 6. – 13. 8. 2000