Gaus, Ulrike

Anna Tretters Arbeiten vertreten, wie die Malerei Dreyers,
den konstruktiven Flügel der Kunst des 20. Jahrhunderts.
Die Tradition des Konstruktivismus, der zu Beginn unseres
Jahrhunderts von der de Stijll-Gruppe in Holland und den
russischen Suprematisten, überzeugt von der Utopie der
Schaffung eines neuen Menschen, begründet wurde, wird
bis heute in vielschichtiger Differenzierung und schöpferi-
schen Neuansätzen weitergetragen.
Das dreitellige Wandstück „Gekippter Raum“ im Dachge-
schoß setzt den realen Ausblick durch die schrägen Dach-
fenster in einer reinen Welt der Illusion auf der linken Seiten-
wand fort. Die in die Tiefe ziehenden Linien, denen auch die
seitlichen Außenkanten der drei Stücke zu folgen scheinen,
bringen die plan vor der Wand angebrachten Material-Flä-
chen in einen Schwebezustand im Raum. Kein Teil ent-
spricht dem andern, die leichte Verschiebung der Richtun-
gen, die auf verschiedene Fluchtpunkte zielen, verunsichern
und irritieren den eintretenden Betrachter auf ihn beunruhi-
gend oder aggressiv wirkende Weise,
„Die Wandstücke sind nahezu alle aus dem Rechteck ent-
wickelt, also aus einer geometrischen Fläche, die dann aber
durch Verschiebungen und Verkürzungen so verwandelt
und umgesetzt wird, daß sie mit den Worten oder Katego-
rien einer reinen Geometrie nicht mehr zu beschreiben sind.
Diese Einordnungen, die wir treffen wenn wir ein Quadrat,
Rechteck oder einen Kreis zeichnen, reichen hier nicht
mehr aus. Genausowenig genügt die Beschreibung zwi-
schen Raum und Fläche. Anna Tretters Arbeiten changie-
ren; sie setzen diese alte Unterscheidung zwischen der Illu-
sion und der Faktizität außer Kraft, die Unterscheicung, die
man als Sein der Plastik und als Schein der Malerei beschrie-
ben hat.“ (Dorothee Bauerle, 1988, Eröffnungsrede)
Die zwölfteilige Arbeit „Piano“ besteht aus vier verschiede-
nen Motiven. Die 3 x 4 in einem quadratischen Wandaus-
schnitt angeordneten Elemente bilden jeweils für sich eine
Raumwirkung, die sich wie ein Fragment am Nachbarn
stört und sich abstößt, Ihre Anordnung folgt den Zahlenkom-
binationen 123-214-343-412.
Der Titel „Piano“ mit der Doppelbedeutung von „leise“ und
„Klavier“ legt einerseits den physischen Eindruck des Werks
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und andererseits den von der Tastatur des Klaviers abgelei-
teten Eindruck der Formfindung frei.
„Die Tafeln stehen fünf Zentimeter vor der Rückwand, da-
durch entsteht eine Schattenbildung, eine Plastizität im Bild
und als Bild. Die polierte Oberfläche des Stahls spiegelt den
Raum in die Arbeit, während das stumpfe, verschieden
stark gespachtelte Gelb diesen Raum nochmals kippt. Von
verschiedenen Standpunkten aus gesehen verändert sich
Sicht und Anschein. Frontal gesehen, das stärkste Gelb des
Musters, mit einfallendem Licht gesehen das Schattenbild
im Stahl, bis die Ansicht in der Spiegelung der Oberfläche
endet.“ (Anna Tretter, 31. 8. 1991)