Chlumsky, Milan: Wolken … dort

Presseartikel, Milan Chlumsky, FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 7. 2000, Galerieverein Leonberg, Arbeiten auf Papier 1980 bis 2000 

Wolken … dort

Schau auf das Rätsel: Anna Tretter in Leonberg

»Was liebst du, rätselhafter Fremder?«, fragt Charles Baudelaire in »Le spleen de Paris«. Die Antwort ist: »Ich liebe Wolken … Wolken die vorbeifliegen … dort … dort … die wunderbaren Wolken.« Nur selten gelingt es, eine derart unbestimmte Atmosphäre bildhaft präzise wiederzugeben, wie Anna Tretter dies in ihrer 1999 entstandenen siebenteiligen Serie kleiner Papierarbeiten gelungen ist. Man fühlt sich in dem leicht verdunkelten Raum des Leonberger Galerievereins um anderthalb Jahre zurückversetzt. Es scheint, als ob die Sehnsucht, die einst dem Dichter Baudelaire und den Fotografen Marville, der wunderbare Aufnahmen von Wolkenformationen gemacht hat, gemeinsam war, urplötzlich sichtbar wäre. Die ätherischen Formen, die Tretter mit Asche auf Büttenpapier gezaubert hat, bilden einen unerwarteten Kontrapunkt zu der »lärmenden« Außenwelt, die sich meistens nur auf der Oberfläche abspielt und durch Tretters Videoinstallation »Move« noch unterstrichen wird.

Das Videoband läuft auf einem hochgestellten Monitor. Außerdem wird es über einen rotierenden Spiegel unter der Decke auf die Wände projiziert. Die etwa zwanzigminütige Sequenz zeigt aus einer festen Einstellung den Blick in eine Gasse, die zum Leonberger Marktplatz führt. In slow motion und in Schwarzweiß sieht man Passanten: eine Frau, die einen Brief liest, zwei ältere Damen, die sich unterhalten. Nur Kinder haben die Kamera entdeckt und blicken hinein. Kein Ton ist zu hören. Wie in ihren Papierarbeiten, so untersucht Anna Tretter auch mit dieser Installation Alltagsphänomene, um dabei das Rätselhafte, das sich hinter diesen verbirgt, in den Vordergrund treten zu lassen. Was geschieht in der Unterhaltung der beiden älteren Damen? Welche Botschaft verbirgt sich in der seltsam entrückten Bewegung der Nachrichtenüberbringerin? Wo kommen die Leute her, wohin gehen sie hin?

Wenn die Bildsequenz alle Wände, an denen Tretters Bilder hängen, durchquert hat und sich das lautlose Geschehen sozusagen einmal um die eigene Achse gedreht hat, ist die wahrgenommene Welt nicht mehr die gleiche. Die Bilder selbst haben sich verändert. So scheinen etwa die großformatigen Arbeiten aus Silberlack und Asche auf Bütten (1999) einen Teil des Geschehens für den Bruchteil einer Sekunde absorbiert zu haben. Nichts ist mehr, wie es zuvor war. Tretters besonderes Interesse für die Oberfläche hat mit ihrem Studium der Bildhauerei an den Akademien in Stuttgart und in München zu tun. Von den ursprünglichen Bildhauerzeichnungen – einige sind ausgestellt – hat sie ihren Weg zur selbständigen Zeichnung gefunden, wobei ihre neueren Arbeiten zur ausdrucksstarken Monochromie tendieren. Sie offenbaren ein ungewöhnliches Feingefühl für die Nutzung einfachster künstlerischer Mittel, die den Begriff des »Oberflächlichen« permanent -in Frage stellen. Was aber hinter den Wolken liegt, kennt nur der rätselhafte Fremde – der Betrachter.

Presseartikel, Milan Chlumsky, FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 7. 2000, Galerieverein Leonberg
Arbeiten auf Papier 1980 bis 2000 – Anna Tretter