Bauerle-Willert, Dorothée: Heimspiel

Katalogtext: HEIMSPIEL, Kulturspeicher Würzburg


Unterwegs sein – Von Košice nach Medzillaborce und über andere unbekannte Orte

Anna Tretters Arbeiten entstehen heute oft im Transit, unterwegs, an fremden Orten. Der Raum der Kunst war schon in ihren früheren skulpturalen Untersuchungen im Zentrum, nun ist es, als ob ihr Raum sich immer mehr weitet und diese Erweiterungen finden in ihrem vielschichtigen Werk auf ganz verschiedenen Ebenen, in verschiedenen Medien ihre Form.
Unterwegs ist Anna Tretter von Nizza nach Kapstadt, ihr Video aus der Vogelperspektive folgt dem Flug durch die Wolken, die zwischen Himmel und Erde eine Ebene bilden, bis die Wolken-Tafeldecke, die über das Plateau des Tafelbergs gebreitet ist, über seine Kante auf die Erde gleitet. Im Aufbruch und im Transit entstehen die Aufnahmen des Laufbands im Flughafen in Prag und auf der Rolltreppe im Stuttgarter Bahnhof, die dem zufälligen Auf und Ab der Menschen folgt.
Auch ihre Zeichnungen sind Notate, Aufzeichnungen von Reisen, im Auto, im Flugzeug, im Zug, zu Fuß von Ortschaft zu Ortschaft, zugleich sind sie Kristallisierungen der Zeichnung als beweglicher und bewegter Prozess, Passagen zwischen dem Fahren und Erfahren, die die Lust an der Ungewissheit, die Spannung, ein sich Einlassen ins Unbekannte, das jeder Reise eigen ist, transportieren.  Die Entstehung der Zeichnungen reflektiert noch einmal die Hingabe an den Augenblick, wobei auch hier wie bei manchen der Video-Arbeiten, der Zufall seine Rolle spielen darf. Anna Tretter hält den Zeichenblock oder eben einen gefundenen Bildträger wie die ‚Spuktüten’, die man im Flugzeug vorfindet, auf den Schenkeln; ganz entspannt hält sie den Bleistift, der die Erschütterungen, das Schlingern, die Unwegsamkeiten gleichsam von alleine protokolliert/scannt und so das Unerwartete, das ‚Andere’, das im ästhetischen Akt entdeckerischen Zeichnens selbst aufscheint, entfaltet. Die Blätter transportieren mit großer Selbstverständlichkeit eine Ahnung des Unvorsehbaren, das gleichermaßen den zeichnerischen Prozess und das Unterwegssein grundiert. Es sind erlebte souveräne Augenblicke, durch sie, mit ihnen entstehen diese durchsichtigen Gebilde ineinandergewobener Lineamente, leichte schwebende Knäuel, Verdichtungen, Kreuzungen, Lockerungen. In wunderbarer Mobilität springen die Bildchiffren von Blatt zu Blatt, sich verstreuend, sich sammelnd, als ob die unkodifizierbaren Linien aus der Welt, der Erdengegenwart selbst hervorgingen. Die Zeit der Reise mit ihren Momenten intensiver sinnlicher Wahrnehmung verweben sich mit einem Ferneren, Unpersönlicherem, sie sind Reaktion auf und Resonanz des Unterwegsseins, ein Geschehenlassen und ein Horchen auf das Unbekannte. Das Zeichenblatt wird gleichsam zur fremden Gegend, belebt, bewohnt durch die Zeichnung, Raum gestaltend, Raum eröffnend.
Eine andere Art von visuellem Road Movie gibt die Bilderreihe der ‚Kleinen Häuser’, wiederum Haltestationen in einem fremden Land. In der Ausstellung zeigt sie die slowakische Fortsetzung einer früheren Reise – damals folgte sie einer Route, auf der einige der Kunstorte in Polen als Orientierungspunkte verzeichnet sind – Namen und Städte, die im Westen immer noch weitgehend unbekannt sind. Nun ging die Reise von Košice nach Medzillaborce und nach Levoca; Anna Tretter hat wiederum die Wartehäuschen am Rande ihrer Wegstrecke fotografiert und jeweils das Foto des vorhergehenden Bushäuschens an der nächsten Station angebracht – Erkundung, Recherche, Begegnung, Entdeckung unvertrauter Orte und ihre imaginäre Verknüpfung. Die Fotoreihe der Wartehäuschen korrespondiert präzis der Passage, dem Zwischenraum, in dem man sich auf Reisen befindet; es sind Orte zwischen Ankunft und Abfahrt, zwischen Eigenem und Fremden, zwischen Erwartung und Abschied. Und wie auf Reisen werden wir in der Begegnung mit den ‚kleinen Häusern’ zum Hermeneutiker versuchen die Bilder zu deuten, zu gruppieren, zu vergleichen, Familienähnlichkeiten herauszufinden, Geschichten zu erfinden. Innerhalb der Typologie, Wartehäuschen’ gleicht doch keine Station der andern. Es scheint in diesem Land noch keine vereinheitlichende Norm zu geben, jedes Bushäuschen ist ein Individuum (obwohl es natürlich Verwandte hat), unterschieden in Maß, Proportion, Farbgebung von seinen Nachbarn. Diese Vielfältigkeit ist in den hochindustrialisierten Ländern nahezu verschwunden, die Produkte sind standardisiert nach ihrem jeweiligen Zweck. Wenn Anna Tretters Kunstwerke die Verschiedenartigkeit, die Unverwechselbarkeit des jeweiligen Objekts festhalten, so wird damit vielleicht auch der Raum der Kunst, der Vielfalt und Einzigartigkeit erfordert und ermöglicht, thematisiert. Vertraute Kunsterfahrungen schießen ein, wir lesen die stummen Zeichen ja auch durch die ästhetischen Codes der land art beispielsweise oder der Industrie-Monumente Bernd und Hilla Bechers, doch geht es Anna Tretter nicht nur um die kühle Dokumentation eines formalen Vokabulars; von den Fotos geht eine Unruhe aus, trotz aller Gemächlichkeit und eine seltsame Heimatlosigkeit, die auch mit den fehlenden oder nicht auf Anhieb zu erschlüsselnden Ortsangaben zusammenhängen mag. Wir sind auch als Betrachter ‚on the road’.
Anna Tretters Arbeiten antworten auf den Anruf, den Anspruch, der Faszination des Unterwegsseins und formen nun selbst auf anderer Ebene ein Zwischen – ein Netz von Relationen, mit Knotenpunkten, Anschlussstellen, Verbindungspfaden. Ihre Videos, ihre Installationen, ihre Zeichnungen verweben den Ort oder ein Ereignis mit ihren eigenen mitgebrachten Bildern und Erfahrungen, mit Erinnerungen und Assoziationen. In solchem Hin und Her entsteht eine vielschichtige und doch luzide Verflechtung von Eigenem und Fremden, wie in dem Namen, den wir von anderen bekommen haben, wie bei der Vergangenheit, die wir nie in flagranti erwischen.  

Dorothée Bauerle-Willert
Katalogtext: HEIMSPIEL, Kulturspeicher Würzburg