Neue Kunst im Hagenbucher: Anna Tretters »Phosphore«
Heilbronner Stimme vom 16. Juni 1992 / Nr. 137
Als Anna Tretter den über 500 Quadratmeter großen trapezförmigen Raum im Heilbronner Hagenbucher zum erstenmal sah, dachte sie, daß es ein Ding der Unmöglichkeit sei, ihn in den Griff zu kriegen. Die parallel angeordneten Säulen und die Raster in der wabenförmigen Decke machen den unwirtlichen Raum, der ohne rechte Winkel auskommt, zu einer vielschichtigen Herausforderung für Aktions- und Installationskünstler. Anna Tretter nahm diese Herausforderung an. Ihre Arbeit »Phosphore« ist der Versuch, mit Hilfe eines Spiels von Licht und Schatten die menschliche Wahrnehmung zu irritieren. Ihre mit phosphoreszierender Nachleuchtfarbe bestrichenen Dachpappe-Bahnen loten den Raum aus: ausgehend von den Säulen schuf sie ein Leuchtquadrat, das sich an zwei Ecken innerhalb des Raumes und an zwei Ecken imaginär außerhalb des Raumes zusammenfügt. Fünf vertikale Streifen verlassen den Boden, gehen (zum Teil auf den Säulen) in die Höhe, in die Wand, ins Dreidimensionale – erst gerade, dann schräg und dann wieder am Boden entlang, bis sich das Quadrat schließt.
Dadurch bringt Anna Tretter Bewegung in den Raum, macht ihn mit minimalsten Mitteln weiter, offener, höher und verweist gleichzeitig mit den in die Wände laufenden Streifen auf die Außenwelt. Der Raum scheint – je nach Standpunkt – entweder nach außen zu kippen oder zusammenzuklappen. Phosphor wird zu materialisiertem Licht, die grünlich leuchtende Farbe zu einem Zustand.
Erst in der Dämmerung erwacht die dreimal mit Dispersionsfarben grundierte und viermal mit der Nachleuchtfarbe bestrichene und das Begehen herausfordernde Arbeit zum Leben. Das grüne Licht macht außerdem empfänglich für andere, vom Tagesablauf bestimmte Lichtwahrnehmungen, die durch die Fenster hereinflackern.
Anna Tretter hat eine Arbeit geschaffen, die sich in ihrer Kargheit und konsequenten Raumbezogenheit auf verblüffende Weise gegenüber dem ebenso spröden und als dominant empfundenen Raum behauptet. Sie schlägt ihn mit seinen eigenen Waffen.
Andreas Sommer, Heilbronner Stimme vom 16. Juni 1992 / Nr. 137
Neue Kunst im Hagenbucher: Anna Tretters »Phosphore«